Papier ist weiß. Dieses Kapitel ist auf weißem Papier gedruckt. Graue Steuerbescheide oder Telefonrechnungen sind ebenso die Ausnahme wie rosarote Liebesbriefe und
Geburtstagsglückwunschkarten. Das eine ist Ökopapier, das andere Designerware, beides sind Spezialfälle.
So ist es auch mit Wänden. Welche Farbe haben die Wände des Zimmers, in dem Sie sich gerade
aufhalten? Wahrscheinlich Weiß. Um diese weißen Wände geht es, nicht um wirkungsvolle Ausnahmen, wie etwa teure Spachtelwände, mit denen man Eindruck macht, oder ockerfarbene Landhauswände, durch die auch kleine Mietwohnungen wie mediterrane Feriendomizile wirken. Es geht auch nicht um das erstklassige Styling farbiger Wohnorgien in ausgesuchten Architekturzeitschriften und den Farbenreichtum afrikanischer Lehmhütten. Das sind Ausnahmen, die das tägliche Leben nicht wirklich berühren.
Der Alltag ist immer noch von weißen Wänden geprägt. Und die Meinung hält sich hartnäckig, daß man für Farbgestaltung nicht nur einen großen Geldbeutel mitbringen muß, sondern auch ungeheuren Mut, um sich auf das unberechenbare Experiment farbiger Wände einzulassen.
Meistens muß der Farbenplaner sein Dasein durch Argumente rechtfertigen. Nicht nur gegenüber
Häuslebauern und Hausverwaltern, sondern auch vor den kritischen Augen zahlreicher Architekten. Die haben sich im Lauf der letzten 15 Jahre daran gewöhnt, die Farbe Blau in ihr Repertoire aufzunehmen und entdecken zur Zeit die Glättspachteltechnik in einem hellen Beige-Grau. Sie wetteifern dabei mit dem schmucklosen Charme einer protestantischen Kirche – auch beim Argumentieren. “Zu dominant” heißt es oft, wenn wirklich interessante Muster vorgelegt werden. Der Herr im Haus (der Dominus) ist nämlich Weiß.
Man sollte keine anderen Farben haben neben ihm.
Dabei ist es nicht einmal die Sehnsucht nach dem himmlischen, über alles vergänglich Bunte erhabene Weiß des Barock, die den Architekten umtreibt. Hoch im Kurs ist heute die reine Klarheit, das Psychisch- Saubere, das den Raum nicht verunklart, sondern in seinen architektonischen Strukturen unterstreicht. Der Hang zur Selbstdarstellung manch eines Planers triumphiert häufig über die Einsicht, daß Architektur für fühlende Menschen gemacht werden sollte und nicht die Aufgabe hat, “Raum an sich” zu gestalten.
So hat der Trend “Wohnen mit Farbe” an dem Vorurteil, mit weißen Wände mache man nichts falsch, da sie “neutral, freilassend und freundlich wirken”, wenig geändert. So wie es “richtiges Papier” und
Designerpapier gibt, so gibt es auch Standardwände und Designwände. Darum nennen sich die Maler, die nicht nur weiß rollen, neuerdings “Design-Maler”. Früher ging jeder Maler ganz selbstverständlich mit Farbe um. So ändern sich die Zeiten.
Die folgenden “7 Argumente gegen die weiße Wand” möchten dem engagierten Maler, Farbenplaner und Innenarchitekten Argumente liefern. Nicht, um blindlings eine Farbinflation zu forcieren, sondern um Farbe als Gestaltungsmittel und -notwendigkeit auch für die alltäglichsten Belange ernst zu nehmen.

1. Weiß wie Schnee: Fröhliches Frösteln im Rauhfaser-Iglu Skifahrer und Nordpol-Expediteure benötigen eine Schneebrille. Das Auge, gewöhnt an grüne Auen, braune Äcker und bunte Felder, ist der starken Blendung nicht gewachsen. Als ein echter Sonderfall in der Natur ist die rein weiße Umgebung nur in extremen Situationen anzutreffen. Dort ist es immer kalt und ungemütlich,
und ohne spezielle Ausrüstung ist ein Überleben nicht möglich.
Schnee reflektiert das auftreffende Licht in hohem Maß. Und genauso sollen es die weißen Wände tun. Aber welches Ideal steckt dahinter? Man will nichts mit dem Licht anstellen, was es verändert, beeinflußt, veredelt. Nichts zeigen, was erst durch Licht und im Licht geworden ist … “Rohes, ungeformtes Licht” soll uns den Alltag in Gebäuden erleuchten. Hauptsache hell. Und genauso lebensfern wie eine Nordpolexpedition. Dabei wäre doch ein Osterspaziergang mit Goethe sehr viel erbaulicher. Der wußte bereits “[…] Aber die Sonne duldet kein Weißes […] alles will sie mit Farben beleben.”

2. Kalkweiß … vor Schreck?
Weiß in der Architektur hat eine lange Tradition – den Kalk. Weiß gekalkte Wände finden wir auch heute noch, wo naturverbundene Menschen an blauen Küsten ihre Häuser in blitzende Kleinode verwandeln und hinter reflektierenden Fassaden in angenehm kühlen Räumen leben. Der farbliche Zusammenhang mit dem Titandioxid in industriellen Dispersionsbeschichtungen ist da eher zufällig. Auch in Gegenden, in denen früher Holzwände und Lehmputz Tradition waren, ist Titanweiß heute ein Wohnideal. Mit dem guten alten Kalk hat das nichts zu tun, eher mit dem Wunsch nach überirdischer Reinheit und Emanzipation von allem Natürlichen. Das vollkommene Weiß eines hochdeckenden Anstrichs wird dann auch mit dem ersten Dübel in der Wand renovierungsbedürftig. Und wie vor Schreck erstarrt steht die Wand da, leblos in ihrer Weißheit, die doch eigentlich über alles Zufällige erhaben sein sollte.

3. Eine perfekte Synthese aus Sparsamkeit und Angst Büros sind fertig eingerichtet, wenn der Computer angeschlossen ist und das Telefon funktioniert. Sprech-, Warte- und Behandlungsräume werden in Betrieb genommen, sobald die nötigen Apparate und Sitzmöbel aufgestellt wurden. Bis auf wenige Ausnahmen (zum Beispiel bei Tiefgaragen) hat es die Einsicht schwer, daß farbige Gestaltungen die Bewohnerzufriedenheit steigern, Vandalismus vorbeugen und Krankenstand
reduzieren. Noch immer bedarf es engagierter begeisternder Verkaufsgespräche, um erfolgreich darauf hinzuweisen, daß die zusätzlichen Kosten für Farbenplanung und -gestaltung nur einige Promille der Baubeziehungsweise Einrichtungssumme betragen. Außerdem macht sich diese Investition durch ihre Folgewirkungen mehr als bezahlt. Neben dieser falschen Sparsamkeit spielen natürlich auch verschiedene Ängste eine Rolle. Wenn man nun die falsche Farbe auswählt? Wenn sich die Mitarbeiter dann noch unwohler fühlen …? Und schon vergessen sind die Renovierungsintervalle, die es möglich machen, ohne Mehrkosten eine weniger gelungene Farbentscheidung zu korrigieren. Daß man mit Weiß auch eine Entscheidung trifft, die denkbar ungünstigste sogar, wird gar nicht bewußt. Weiß ist doch keine Farbe. Oder?

4. Weiß säen und Grau ernten Goethe bemerkt in § 12 seiner Farbenlehre (1810): “Wer aus der Dämmerung ins nicht blendende Helle kommt, bemerkt alle Gegenstände frischer und besser; daher ein ausgeruhtes Auge durchaus für mäßige Erscheinungen empfänglicher ist.” Wir danken Goethe für diesen Paragraphen im Kampf gegen weiße Windmühlenflügel. Ein in der Dämmerung “ausgeruhtes Auge” sieht also besser als eines, das durch zu viel Helligkeit desensibilisiert wurde. Je nach Lichtmenge vergrößert oder verkleinert sich die Pupille, und durch große Pupillen sieht man besser. Einerseits heißt das: Sehr helle Räume setzen die Aufmerksamkeit für feine Seheindrücke herab. Andererseits – und das behandelt Goethe in den nachfolgenden Paragraphen – sind alle Seheindrücke, seien sie nun bunt oder unbunt, mit virtuellen Begleiterscheinungen verknüpft, die den Wahrnehmungsvorgang ihrerseits beeinflussen. Wir nennen das heute zum Beispiel “Simultankontrast” und “Sukzessivkontrast”. Der Blick auf ein weißes Kreuz auf schwarzem Grund erzeugt im Nachbild ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund. Je länger man auf eine unifarbene Fläche starrt, um so weniger Farbe sieht man, da sich das komplementäre Nachbild über die angestarrte Fläche schiebt und eine ins Graue gehende Mischung einleitet, und so weiter. Diese Experimente sind allgemein bekannt und erforscht. In einigen Galerien zog man, rechtzeitig vor dem 200jährigen Goethe-Jubiläum, die Konsequenzen. Die Exponate hängen nicht auf Weiß, sondern auf Grau, manchmal sogar auf farbigen Wänden. Überzeugen Sie sich selbst, und legen ein kleines rotes Papierstückchen (2 x 2 cm) auf einen weißen und auf einen schwarzen Karton. Das weißgrundige Rot wirkt matt, während das schwarzgrundige leuchtet. Ein mittleres Grau in der Helligkeit des Rot bringt die Farbe “objektiv” zur Geltung. Natürlich gelten diese Gesetze auch im Büro, im Treppenhaus und anderen Räumen, in denen wir uns aufhalten. Die weiße Wand imprägniert das Auge komplementär: Ein Grauschleier legt sich auf alles Angeschaute. Und je unerbittlicher die Wand beleuchtet wird, um so mehr verschließt sich das Auge. Dieses Sich-Verschließen gilt übrigens nicht nur auf der physiologischen Ebene. So wie ein rein weißer Raum kurzfristig wach machen und die Aufmerksamkeit erhöhen kann, so kann er bei längerem Aufenthalt ermüdend und abstumpfend wirken. Weiß ist “100 % Licht”, und wer 100 % Aufmerksamkeit über längere Zeit entfalten soll, bei dem setzen ganz natürliche Ermüdungserscheinungen ein.

5. Objekte statt Emotionen
Noch einmal zu den roten Papierschnipseln. Auf Weiß wirken sie wie kleine Teilchen, wie Dinge, die auf der Papieroberfläche liegen. Auf Schwarz beginnen sie zu leuchten und wirken wie farbige Lichter, die aus dem Untergrund heraus strahlen. Nehmen Sie ein rotes, grünes, gelbes Schnipselchen zugleich: Auf Grau vereinen sich alle zum Ensemble, während sie auf Weiß oder Schwarz ein abschattiertes beziehungsweise leuchtendes Einzeldasein führen. In der Regel hat man nicht Möbel in Rot, Grün und Gelb zugleich, und darum ist auch keine neutralgraue Wand erforderlich, um ein Ensemble zu bilden. Ein warmes Ocker hinter hölzernem Mobiliar, ein kühles Azur im Umfeld von Edelstahl und Granit schaffen Einheit statt Vereinzelung.
Wer den Objektcharakter seiner Einrichtung betonen möchte, wählt weiße Wände. Auch der Nutzer des Raums wird dann zum Objekt. Er steht der Wand und den gleichsam “einzelkämpferischen” Gegenständen distanziert gegenüber. Wenn Modefirmen wie Jil Sander weiße Wände für ihren Flagship-Store wählen, dann nicht ohne Grund. Die Ware wird in ihrem emanzipierten Designanspruch präsentiert – weitere Verkaufsargumente werden durch das bauliche Ambiente nicht geliefert und sind in diesem Umfeld auch kaum möglich. Dabei kann die konsequent puristische Linie in ihrer schlüssigen Umsetzung auch wieder fast so etwas wie Gefühle wecken. Der Kunde ist fasziniert von der suggestiven Kraft eines unterkühlten ästhetischen Ideals.
Bei vielen anderen Gebäuden hingegen weiß man nicht, ob Weiß bewußtes Gestaltungsmittel oder das
Ergebnis ängstlicher Sparsamkeit ist. Und die weißen Wände in Postfilialen und sonstigen “Abfertigungsräumen” scheinen lediglich ein Ausdruck dafür zu sein, daß Kunden Objekte sind, die sich in einer langen Schlange aufzustellen haben. Sie teilen sich den Raum dann mit unzähligen Werbedisplays und Formularständern, die vor den weißen Wänden selbst hochmodern renovierte Schalterräume optisch zu Rumpelkammern machen.

6. Die weiße Fahne
In diesem Abschnitt soll nun die weiße Fahne der Unterhändler und Friedensboten geschwungen werden.
Selbstverständlich ist Weiß genauso großartig wie alle anderen Farben, nur ein bißchen einseitiger. Gelb kann man verdichten, dann wird es orange, Grün auflockern, dann wird es gelblich, Blau konzentrieren, dann wird es violett. Denken wir uns auf den Äquator von Runges Farbenkugel (oder auf den “Äquator” eines zeitgenössischen Farbraummodells): Bunte Farben gehen ineinander über, indem sich ein kleines Stückchen ihrer Qualität verwandelt. Aber weißer als Weiß geht nicht. Darum heißen Weiß, Schwarz und Grau die “unbunten” Farben. “Unbunt” ist ein Synonym für unbeweglich. Damit ist nur ein kleiner, vielleicht mißverständlicher Wesenszug der unbunten Farben angedeutet. Ein Blick auf die historische und symbolische Verwendung sowie auf kollektive Assoziationen mag diesen Hang zum Absoluten, Kompromißlosen des Weiß verdeutlichen: Das weiße Opferlamm, die weiße Friedenstaube, das weiße Ei und das weiße Totenhemd. Weiß gilt symbolisch sowohl als Farbe des Wissen und Schweigens als auch des Nichtwissens und Vergessens, der weiße Klapperstorch bringt die Kinder, blendend weiß ist das überidische Licht der Erleuchtung und der Auferstehung … Natürlich gibt es auch weiße Bäckerschürzen.
Doch im kollektiven Bewußtsein leben weniger die Frühstückssemmeln als das Überirdische, Geistige,
Unfaßbare, wenn wir an Weiß denken. Aber um alles in der Welt: Was hat das mit Wohnen, Leben und
Arbeiten zu tun?

7. Die weiße Leinwand und die Kunst, ein Bild zu malen. Was gibt es Schöneres als weiße Wände – jene perfekten Maluntergründe, deren Jungfräulichkeit zu neuer Schöpfung ruft? So poetisch muß es der Malermeister seinem Kunden natürlich nicht sagen. Da reichen vielleicht die Sätze: “Sie bekommen etwas ganz Individuelles. Farben strahlen Atmosphäre aus. Sie spiegeln Ihre Gefühle, Ihre Persönlichkeit wieder.” Oder einfach nur: “Farbe ist schön.